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KlarText! 

 

Da ich für diesen Text schon einen Preis bekommen hab, ist er wohl am besten geeignet, um meine Arbeit zu beschreiben. Viel Vergnügen beim Lesen :)

Den optisch ansprechenden Auszug aus der bdw-Sonderbeilage gibt es hier.


Röntgenblick dank Mini-Magnet

Die meisten Menschen kennen Stahl nur in seiner festen Form. Für die Verarbeitung muss er jedoch aufgeschmolzen werden, was ihn zu einer heißen und äußerst aggressiven Flüssigkeit macht. Dann ist er nur noch schwer kontrollierbar. Ein neues elektro­magnetisches Messverfahren hilft, kritische Situationen zu verhindern.

Kurt ist Stahlarbeiter. Er überwacht die Temperatur und Zusammensetzung des Stahls, der als Schmelze aus der Stranggussanlage fließt. Meist sitzt Kurt vor einem Überwachungsmonitor. Manchmal nimmt er mit einem Keramikbecher eine Probe ab, bei knapp 2000 °C, um sie dann zur chemischen Untersuchung zu bringen.
Als Kurt die Zusammensetzung der heutigen Schmelze sieht, runzelt er die Stirn. Soviel Aluminiumbeimischung, ob das mal gut geht. Und tatsächlich, der Füllstand der Schmelze im Strang nimmt schon ab. Kurt beobachtet das Signal auf dem Bildschirm genau. Das Absinken verheißt nichts Gutes: Das Rohr, durch das der Nachschub aus der Gießpfanne kommt, setzt sich zu. Manchmal hilft es dann, Argon durch das Rohr zu blasen. Manchmal kann Kurt die Verengung durch erhöhten Zulauf aus der Gießpfanne ausgleichen. Wenn beides nichts bringt, muss Kurt das Rohr austauschen.
Was Kurt an diesem Morgen so sorgenvoll betrachtet, ist der Fachwelt als Clogging bekannt (englisch Verstopfen). Dabei entmischen sich die Bestandteile des Stahls und erstarren. Es entstehen Klumpen, die sich an den Wänden des Tauchrohrs festsetzen. Die größer werdenden Ablagerungen verstopfen das Rohr zunehmend, bis zu dem Punkt, an dem der Stahl überhaupt nicht mehr abfließen kann. Wirksam verhindern kann man Clogging nur, indem man Stahlzusammensetzungen meidet, die erfahrungsgemäß zum Clogging neigen. Bei neuen Stahlsorten fehlt dieses Erfahrungswissen; Vorhersagen sind nicht möglich, denn verstanden ist der Prozess des Cloggings bis heute nicht.
Was man dagegen sehr gut versteht, sind die Folgen des Cloggings: Wenn ein Rohr verstopft, muss die betroffene Anlage abgeschaltet werden. Das Rohr selbst kostet nur wenige Hundert Euro und ist schnell gewechselt. Aber schon eine Minute Stillstand kostet Tausende von Euro, denn in dieser Zeit könnten mehrere Tonnen Stahl gegossen werden. Wird das Rohr dagegen nicht ausgetauscht, können die Ablagerungen an den Wänden durch den fließenden Stahl mitgerissen werden und ihn verunreinigen. Im schlimmsten Fall muss der soeben hergestellte Stahl verschrottet werden. Das ist eine enorme Verschwendung von Ressourcen: Die Erzeugung von einer Tonne Stahl verbraucht etwa 1000 kWh Energie, genug, um einen durchschnittlichen Haushalt ein Vierteljahr lang mit Strom zu versorgen. Fast die Hälfte dieser Energie stammt in Deutschland aus Kohlekraftwerken, sodass für jede produzierte Tonne Stahl ungefähr eine Tonne Kohlendioxid emittiert wird. Daher würde eine Reduzierung des Cloggings nicht nur zu einer effizienteren Energieverwertung führen, sondern auch einen wesentlichen Beitrag für den Umweltschutz leisten. Umso mehr, da Clogging nicht nur bei Stahl, sondern auch bei anderen Metallen auftritt.
Warum aber ist es so schwer vorherzusagen, ob und wann in einer Schmelze Clogging auftreten wird?
Bisher mussten Forscher das Rohr nach dem Verstopfen ausbauen und aufschneiden, um die erkalteten Ablagerungen zu untersuchen. Um das Clogging zu verstehen, muss man es jedoch „auf frischer Tat“ ertappen. Nur dann kann man den Prozess verfolgen und analysieren. Idealerweise nimmt man dafür ein Geschwindigkeitsmessgerät und überwacht, wieviel Metall durch das Rohr strömt. Setzen sich Ablagerungen an die Rohrwand, nimmt der Durchfluss ab.
Bestünde die Strömung nicht aus Stahl sondern aus Luft, könnte man einfach ein Windrad nehmen um die Strömung im gesamten Rohr zu messen. Flüssiger Stahl ist jedoch so aggressiv, dass er das Windrädchen in Sekundenschnelle zerfressen würde. Und hier steckt das grundsätzliche Problem, das den Ausgangspunkt für meine Dissertation bildet: Es gibt bisher kein geeignetes Messgerät für die Geschwindigkeit von Flüssigstahl.
Doch es gibt Ansätze. Ein neuartiges Messverfahren aus dem Fachgebiet Thermo- und Magnetohydrodynamik der Technischen Universität Ilmenau nutzt die hohe elektrische Leitfähigkeit von Metallen: Setzt man ein bewegtes Metall einem Magnetfeld aus, wird das Metall abgebremst, und zwar umso stärker, je schneller das Metall sich bewegt und je besser es elektrische Ströme leitet. Das ist das Prinzip einer Wirbelstrombremse, und es funktioniert auch, wenn das Metall geschmolzen ist.
Magnet und Strömung beeinflussen sich aber wechselseitig: Nicht nur die Strömung reagiert auf das Magnetfeld, sondern der Magnet reagiert auch auf die Strömung. Er erfährt gewissermaßen einen Rückstoß, der der Bremskraft entgegen gerichtet ist. Anders formuliert: der Magnet wird von dem Metall umso stärker mitgezogen, je schneller es fließt. Misst man die mitziehende Kraft, kann man die Geschwindigkeit der Metallschmelze völlig kontaktfrei ermitteln.
Da die Fachwelt ein Geschwindigkeitsmessgerät als „Anemometer“ bezeichnet (von altgriechisch anemos, „Wind“, und métron‚ „Maß“) und die Bremskraft schon vor einhundert Jahren von Hendrik A. Lorentz entdeckt wurde, heißt das eben beschriebene Messverfahren „Lorentzkraft-Anemometrie“.
Das Besondere an einem Lorentzkraft-Anemometer ist, dass es die Fließgeschwindigkeit vollkommen berührungslos misst. Damit ist es nicht nur unabhängig von den chemischen Eigenschaften, sondern auch von den hohen Temperaturen einer Metallschmelze. Denn heutige Magnete aus Neodym sind zwar stark, halten aber bestenfalls Temperaturen bis 120 °C aus. Stahl schmilzt bei etwa 1600 °C. Da der Magnet aber keinen Kontakt zur Strömung haben muss, kann man das gesamte Messgerät getrost in ein Gehäuse mit einer guten Kühlung einbauen.
Allerdings hatte die Messung mit einem Lorentzkraft-Anemometer bisher einen Nachteil: Sie erfolgte mit Magnetsystemen, die das Rohr vollständig umschließen und deren Einfluss bis weit in die Schmelze reicht. Daher misst das Anemometer den Durchfluss durch das gesamte Rohr. Für das Clogging heißt das, dass man zwar erfährt, wieviel Stahl durch das Rohr strömt, aber nicht unterscheiden kann, ob die Schmelze gemächlich durch das armdicke Rohr strömt oder mit hoher Geschwindigkeit durch einen nur noch fingerdicken Spalt gepresst wird.
Hier setzt meine Dissertation an: Verwendet man statt des Magnetrings einen kleinen Magnetwürfel, dessen Einfluss stärker abfällt, sollte der Magnet bevorzugt den Teil der Metallschmelze „spüren“, der ihm am nächsten ist. In diesem Fall könnte man mit dem Magnet erkennen, wie weit die Strömung von den Ablagerungen in das Innere des Rohrs zurückgedrängt wurde.
Um diese Hypothese zu testen habe ich ein Modellexperiment aufgebaut, bei dem ein kleiner Magnetwürfel dicht neben eine Metallströmung platziert wird. Allerdings benutzte ich nicht Stahl, sondern eine Speziallegierung, die schon bei Raumtemperatur flüssig ist. So konnte ich ein Lorentzkraft-Anemometer vorerst ohne aufwändige Kühlung so abwandeln, dass es auch die winzigen Kräfte messen konnte, die der kleine Magnet erzeugt.
Der Magnet selbst wiegt 8 Gramm, was einer Gewichtskraft von etwa 78 Millinewton enspricht. Die Kräfte, die der Magnet erzeugt und die das Lorentzkraft-Anemometer messen muss, sind nur ein Zehntausendstel so stark wie die Gewichtskraft des Magneten. Ein solch empfindliches Messgerät gibt es nicht zu kaufen, daher habe ich es gemeinsam mit den Mitarbeitern des Instituts für Prozessmess- und Sensortechnik der TU Ilmenau entwickelt. Zwei Jahre dauerten der Aufbau des Experiments und die Vorversuche. Dann erst konnte ich mich der Frage widmen, die mich eigentlich interessierte: Kann man das Clogging mit einem Magneten „live“ verfolgen?
Physikalisch formuliert, lautet die gleiche Frage, ob man mit dem Magneten erkennen kann, wenn sich die strömende Metallschmelze von der Rohrwand und damit vom Magneten entfernt. Ich rückte ihn daher schrittweise von der Rohrwand weg. Und tatsächlich, durch das stark abfallende Magnetfeld ließ die Kraft auf den Magneten mit zunehmendem Abstand zur Schmelze stark nach. Meine Hypothese war also bestätigt.
Damit aber nicht genug. Ich platzierte gezielt Hindernisse in der Schmelze, die den Verlauf der Strömung veränderten. Obwohl sich mein Lorentzkraft-Anemometer außerhalb der Schmelze befand, konnte ich mit seiner Hilfe nicht nur genau sagen, wo das jeweilige Hindernis zu finden war. Ich konnte mit dem kleinen Magneten von außen auch den Verlauf der Strömung hinter dem Hindernis  rekonstruieren. Auf das Clogging übertragen, ließe sich mit dieser Information sowohl die Lage der beginnenden Ablagerungen identifizieren, als auch deren aktuelles Ausmaß. Man könnte also schon viel früher als bisher eingreifen und das Rohr mit Argon freiblasen. Rohrwechsel wären dann viel seltener fällig.
Bis Stahlarbeiter Kurt mit einem ähnlichen Gerät das Zusetzen des Tauchrohrs erkennen kann, ist es noch ein weiter Weg. Verschiedene ingenieurtechnische Probleme müssen gelöst werden, wie zum Beispiel der Schutz des Magneten vor der großen Hitze. Aber der physikalische Grundstein für die berührungslose, punktuelle Messung von Geschwindigkeiten in heißen Stahlschmelzen – mit den damit einhergehenden Rohstoff- und Energieeinsparungen – ist jetzt gelegt.



Dieses Bild ist im Zusammenhang mit dem Klaus Tschira Preis und der Veröffentlichung in der bild der wissenschaft entstanden, wurde im Heft aber nicht verwendet.